Der Bewertungsspielraum bei der notariellen Fachprüfung

Nach ständiger Rechtsprechung unterliegt die Prüfertätigkeit, die sich aufgrund ihrer Komplexität weitgehend nicht durch allgemeingültige Regeln erfassen lässt, einer nur eingeschränkten gerichtlichen Überprüfung.

Die Eigenart dieses Bewertungsvorgangs und die dabei zu beachtenden Anforderungen des Gebots der Chancengleichheit machen es notwendig, den Prüfern einen Bewertungsspielraum zuzuerkennen, dessen Wahrnehmung nur einer eingeschränkten Nachprüfung unterliegt.

Unter diesen prüfungsspezifischen Bewertungsspielraum fallen zum Beispiel

  • die Einordnung des Schwierigkeitsgrades der Aufgabenstellung,
  • die Gewichtung verschiedener Aufgaben untereinander oder
  • die Würdigung der Qualität der Darstellung im Gesamtzusammenhang des Prüfungsverfahrens, ferner
  • Wertungen, die sich damit befassen, ob der Bearbeiter die von der Prüfungsaufgabe aufgeworfenen Fragen vollständig oder nur lückenhaft erkannt hat, oder
  • die Frage, ob ein in der Prüfungsarbeit enthaltenes Problem lediglich ein „Randproblem“ oder ein „entscheidendes Problem“ der Arbeit darstellt.

Dies gilt gleichermaßen für das Gewicht positiver Ausführungen in der Prüfungsarbeit oder die Bedeutung eines Mangels in der Gesamtbewertung.

Schließlich ist die Vergabe von Punkten und Noten – sofern nicht (anders als hier) mathematisch determiniert – sowie die Frage, ob eine Prüfungsleistung als „brauchbar“ zu bewerten ist, Gegenstand des Bewertungsspielraums1.

In den Bereich des prüfungsspezifischen Bewertungsspielraumes dürfen die Gerichte grundsätzlich nicht eindringen, sondern haben nur zu überprüfen, ob die Prüfer die objektiven, auch rechtlich beachtlichen Grenzen ihres Bewertungsspielraums überschritten haben, etwa, weil sie von falschen Tatsachen ausgegangen sind oder sachfremde Erwägungen angestellt haben, ihre autonomen Bewertungsmaßstäbe nicht einheitlich angewandt oder allgemeingültige Bewertungsgrundsätze nicht beachtet haben. Ferner müssen prüfungsspezifische Wertungen und Gewichtungen nachvollziehbar sein und dürfen keine inhaltlichen Widersprüche aufweisen. Ob ein angerufenes Gericht nur zu einer abweichenden Bewertung kommt, ist mithin unerheblich, denn es darf sich nicht an die Stelle des Prüfers setzen2.

Anderes gilt für die fachliche Wertung durch den Prüfer, das heißt dessen Entscheidungen über die fachliche Richtigkeit konkreter Ausführungen des Prüfungsteilnehmers. Deren Bewertung hängt davon ab, ob der vom Prüfungsteilnehmer eingenommene Standpunkt nach dem Stand der Fachwissenschaft vertretbar ist. Dieser objektive – gerichtlich voll überprüfbare – Bewertungsmaßstab tritt für die Beantwortung von Fachfragen an die Stelle der autonomen Einschätzung des Prüfers, der fachlich vertretbare Antworten und brauchbare Lösungen nicht als falsch bewerten darf. Soweit die Richtigkeit oder Angemessenheit von Lösungen wegen der Eigenart der Prüfungsfrage nicht eindeutig bestimmbar ist, die Beurteilung vielmehr unterschiedlichen Ansichten Raum lässt, muss dem Prüfling ein angemessener Antwortspielraum zugestanden werden3.

Ob der Prüfer seinen Bewertungsspielraum eingehalten hat, kann nur anhand seiner Begründung festgestellt werden. Der Prüfer hat bei schriftlichen Prüfungsarbeiten daher die tragenden Erwägungen darzulegen, die zur Bewertung der Prüfungsleistung geführt haben, um dem Prüfling eine – gegebenenfalls gerichtliche – Kontrolle der Prüfungsentscheidung zu ermöglichen. Die Begründung muss so beschaffen sein, dass der Prüfling diese in den Grundzügen nachvollziehen kann, das heißt die Kriterien erfährt, die für die Benotung maßgeblich waren, und verstehen kann, wie die Anwendung dieser Kriterien in wesentlichen Punkten zu dem Bewertungsergebnis geführt hat. Es muss insoweit nicht in allen Einzelheiten, aber doch in den für das Ergebnis ausschlaggebenden Punkten erkennbar sein, welchen Sachverhalt sowie welche allgemeinen und besonderen Bewertungsmaßstäbe der Prüfer zugrunde gelegt hat und auf welcher wissenschaftlichfachlichen Annahme die Benotung beruht. Dies schließt allerdings nicht aus, dass die Begründung nur kurz ausfällt, vorausgesetzt, die vorstehend dargestellten Kriterien für ein mögliches Nachvollziehen der grundlegenden Gedankengänge des Prüfers sind erfüllt. Eine zunächst fehlende Begründung kann insoweit auch im Verlauf des Verwaltungsstreitverfahrens – etwa im Rahmen der Überdenkung durch den Prüfer – nachgeholt werden4.

Dies zugrunde gelegt, sind in dem hier vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall der Bewertung von Aufsichtsarbeiten in der notariellen Fachprüfung die – hinreichend begründeten – Voten der Korrektoren – soweit in zweiter Instanz noch zu überprüfen – in jeder Hinsicht von dem ihnen zustehenden prüfungsspezifischen Bewertungsspielraum gedeckt und enthalten auch keine fachlich angreifbaren Einschätzungen:

Die gegen die mit der vorliegenden Klage angegriffenen Bewertung der ersten Aufsichtsarbeit gerichteten Rügen des Prüflings greifen nicht durch: 

  • In Aufgabe 1 dieser Klausur ging es um die gutachterliche Erörterung, wie die von F und S gewünschte asymmetrische Aufteilung der Wohnungen rechtlich zu realisieren ist; zudem war anzugeben, was hierfür im Hinblick auf die beiden Grundstücke zuvor zu veranlassen ist. Bei dieser Aufgabenstellung durften, wie das Berliner Kammergericht in der Vorinstanz zutreffend erkannt hat5, beide Korrektoren über die bloße Nennung von §§ 3 und 8 WEG hinaus eine Auseinandersetzung mit den Eigenheiten der beiden möglichen Lösungswege erwarten. Die hierzu vom Prüfling in seiner Klausur maßgeblich angebotenen Argumente (Auseinandersetzung der vermeintlichen Erbengemeinschaft) waren vom Sachverhalt nicht gedeckt („vormals in Erbengemeinschaft“) und lagen zudem jedenfalls jenseits der konkreten Aufgabenstellung. Angesichts der konkreten Frage, was im Hinblick auf die beiden (Nachbar)Grundstücke zuvor, d.h. vor Aufteilung der Wohnungen, zu veranlassen sei, genügte der vom Prüfling erbrachte Hinweis auf § 5 GBO offensichtlich nicht, zumal er lediglich im Zusammenhang mit sonst fehlenden Dienstbarkeiten erfolgte. Diese Antwort schöpft die zwingende Vorgabe zur Begründung eines einheitlichen Grundstücks (§ 1 Abs. 4 WEG) nicht aus. Vielmehr wären durch Erörterung des § 890 Abs. 1 BGB die materiellrechtlichen Voraussetzungen für eine grundbuchrechtliche Vereinigung der Grundstücke zu klären gewesen. Die hierzu bestehende Alternative einer Zuschreibung des einen Grundstücks zum anderen nach § 890 Abs. 2 BGB, § 6 GBO wurde insgesamt nicht geprüft.
  • Aufgabe 2 erforderte die Prüfung eines möglichen Ausschlusses der Sachmängelgewährleistung gegenüber dem Kaufinteressenten C und die Formulierung der entsprechenden Regelungen zur Sachmängelgewährleistung. Die vom Prüfling hierzu befürwortete Anwendung der Regeln über den Bauträgervertrag war von dem vorgegebenen Klausursachverhalt nicht getragen. An der Aufgabenstellung weitgehend vorbei geht in der Folge die vom Prüfling vorgeschlagene Vertragsklausel, die sich im Wesentlichen mit der Abnahme des Werkes befasst und lediglich einen Nacherfüllungsanspruch formuliert.

Auch hinsichtlich der zweiten nicht bestandenen Klausur zeigt der Zulassungsantrag des Prüflings keinen Bewertungsfehler auf:

  • Die geringfügige redaktionelle Unvollständigkeit des Klausursachverhalts war, wie das Kammergericht zutreffend ausgeführt hat, für die angegriffene Bewertung nicht erheblich. Der Satz „Die Grundbücher sind inzwischen dahingehend berichtigt worden, dass die Tochter T als Eigentümerin ist und für E in Abteilung – II ein Nacherbenvermerk besteht“ ließ sich ohne Weiteres und zweifelsfrei um das Wort „eingetragen“ nach „Eigentümerin“ ergänzen. Der Prüfling macht selbst nicht geltend, dass er insoweit Verständnisschwierigkeiten unterlegen wäre.
  • Im Rahmen der aufgegebenen gutachterlichen Prüfung durften die Korrektoren neben der erfolgten inhaltlichen Erörterung der Rechtslage auch die Zitierung der einschlägigen Gesetzesvorschriften erwarten. Dies betrifft bei Aufgabe 1a die Nennung von § 2096 BGB und bei Aufgabe 1c die Nennung von § 2102 BGB.
  • Der Prüfling hat die Aufgaben 1b und 1c, in denen gesondert nach Gestaltungsmöglichkeiten der T (Vorerbin) und der E (Nacherbin) gefragt wird, teilweise gemeinsam beantwortet und in diesem Zusammenhang den Sachverhalt freihändig um einen gemeinsamen Antrag von T und E auf Grundbuchberichtigung ergänzt – und damit abgeändert. Auf dieser Grundlage ist der Prüfling von einer bereits erfolgten Annahme der Erbschaft durch sowohl T als auch E ausgegangen. Eine solche Ergänzung des Sachverhalts war in diesem jedoch weder angelegt noch durch die oben unter (1) erörterte geringfügige Unvollständigkeit veranlasst. Allein von der Eintragung der Nacherbschaft der E kann, wie das Kammergericht unter Hinweis auf § 51 GBO zutreffend ausgeführt hat, nicht auf einen entsprechenden Antrag der E geschlossen werden. Entgegen der Auffassung des Prüflings waren die Korrektoren nicht von Amts wegen gehalten, Teile der vom Prüfling zu Aufgabe 3 angebotenen Lösung auch bei der Bewertung von Aufgabe 1b zu berücksichtigen. Dies folgt – unbeschadet des fehlenden eindeutigen Verweises durch den Prüfling in seiner Klausurlösung – schon aus der unterschiedlichen Aufgabenstellung: In Aufgabe 1b war danach gefragt, welche Gestaltungsmöglichkeiten die T bei dem vorliegenden Testament der F hat (also ex post), während in Aufgabe 3 danach gefragt war, wie F anders hätte testieren können (also ex ante), um die Stellung von T zu verbessern.
  • Bei Aufgabe 1d haben die Korrektoren ausdrücklich anerkannt, dass der Prüfling die Notwendigkeit der Löschung des Nacherbenvermerks für sich genommen zutreffend gesehen hat. Angesichts der gebotenen gutachterlichen Prüfung ist es jedoch mit dem Kammergericht nicht zu beanstanden, dass die Korrektoren in diesem Zusammenhang Ausführungen dazu erwartet haben, welche Regelungen der Notar den Kaufvertragsparteien vorschlagen könnte, um insbesondere auch den Käufer zu schützen. Dagegen lagen Erörterungen zum Geldwäschegesetz weder nach dem Sachverhalt noch nach der Aufgabenstellung zu 1d nahe. Den hierzu gleichwohl erfolgten Ausführungen des Prüflings musste daher keine entscheidend positive Bedeutung beigemessen werden.
  • Bei Aufgabe 2 haben die Korrektoren zu Recht beanstandet, dass der Prüfling die unter den Umständen des Klausurfalles nach vorherrschender Rechtsprechung und Literatur gegebene Möglichkeit einer Vereinbarung zwischen T und E zur Befreiung der T nicht benannt und stattdessen, ohne die Streitfrage zu diskutieren, lediglich die Einsetzung eines Pflegers für die nach seiner Auffassung zwingend zu beteiligenden Ersatzerben vorgeschlagen hat.
  • Bei Aufgabe 3 hat der Prüfling die anerkannten Möglichkeiten eines Vorausvermächtnisses und der Bestellung eines Nacherbenvollstreckers nicht genannt. Beides durfte jedoch angesichts des vorgegebenen Klausursachverhalts erwartet werden. Die Gewichtung dieses Mangels im Verhältnis zu dem stattdessen angebotenen Lösungsweg obliegt im Rahmen des prüfungsspezifischen Beurteilungsspielraums den Korrektoren; für eine Überschreitung der diesbezüglichen Grenzen ist hier nichts ersichtlich. 

 

Bundesgerichtshof, Beschluss vom 4. März 2024 – NotZ(Brfg) 2/23

  1. zuletzt BGH, Beschluss vom 14.11.2022 – NotZ (Brfg) 5/22, ZNotP 2023, 323, mwN
  2. BGH, aaO Rn. 27 mwN
  3. BGH, aaO Rn. 28 mwN
  4. BGH, aaO Rn. 29 mwN
  5. KG, Urteil vom 08.06.2023 – AR 2/22 Not